In diesem Jahr feiern wir 30 Jahre Mauerfall. Wir nutzen die Gelegenheit und lassen Zeitzeugen zu Wort kommen, die sich an die Zeit vor dem Mauerfall und an die Zeit unmittelbar danach erinnern. In unserer dritten Folge kommt Carsten Scheibe zu Wort. Er ist in West-Berlin großgeworden, hatte allerdings Verwandtschaft im Osten.
Ich bin in Berlin-Zehlendorf groß geworden. Von da aus war es nie weit zur Glienicker Brücke, zur Berliner Enklave Steinstücken oder generell zur Mauer.
Als ich noch klein war, sind meine Großeltern oft mit mir verreist. Meist in die Lüneburger Heide, sehr häufig auch auf die Nordseeinsel Amrum, aber wenigstens einmal im Jahr auch nach Mücka. Mücka liegt in der Lausitz, gar nicht so weit von Niesky entfernt – zwischen Hoyerswerda und Görlitz. Im tiefsten DDR-Osten eben. Dort lebte meine Großmutter auf einem alten Gehöft. Das war mal ein halbes Rittersgut gewesen. Die LPG hatte ihr aber den Kuhstall genommen. Nur das Haus war ihr noch geblieben.
Als Kind war mir die ganze West-Ost-Thematik einerlei, aber der Weg über die Grenze war immer sehr gruselig. Wenn die Grenzanlagen auch nur in Sicht kamen, machte ich mich im Auto ganz klein. Da waren immer diese großen, fremd aussehenden Deutschen in ihren grauen Uniformen, die einen merkwürdigen Akzent sprachen, scheinbar überhaupt gar keinen Humor verstanden und bei einer Einreise in die DDR stets das ganze Auto filzten. Für wen denn der Kaffee sei? Wen man besuchen wolle? Und warum? Einmal hat man uns alle Zahnpastatuben ausgedrückt. Glaubten die Kontrollettis etwa, wir hätten da einen systemfeindlichen Propaganda-Souffleur drinnen versteckt? Ein anderes Mal hat man uns alle Wurstbrote weggenommen. Wegen der Maul- und Klauenseuche. Als wir weitergefahren sind, haben wir gesehen, wie sich die Grenzer die Stullen selbst in den Hals geschoben haben.
In der „Zone“, wie wir das nannten, hatte ich als Kind immer viele Freunde. Stundenlang sind wir durch die DDR-Wälder gepirscht, haben Tage im Sommergarten der lokalen Eisdiele verbracht, waren schwimmen oder haben einen Ost-Rummel besucht. Das war richtig cool. Für uns Kinder war das Gegeneinander der deutschen Systeme nie greifbar. Nur als wir älter wurden, meinte mein DDR-Freund Mayk einmal: „Wenn Krieg ausbricht, müssen wir dann aufeinander schießen, wenn du wieder auf der anderen Seite der Mauer bist?“
Einmal wollte ich meinen West-Freunden zeigen, wo meine inzwischen verstorbene Uroma im Osten gelebt hat, wo ich viele Ferienwochen verbracht hatte und wo die Braunkohle längst ganze Dörfer ausradiert hat. Also lud ich sie alle in meinen feuerroten VW Derby (mein allererstes Auto) und fuhr die Strecke nach Mücka zum ersten Mal selbst – nach Jahren der Abwesenheit. An der Grenze wurden wir angehalten, da hatte sich nichts verändert.
Doch dieses Mal musste ich als Fahrer den Wagen verlassen und mit in eine Baracke gehen. Dort wurde ich wieder befragt. Was wir denn im Osten wollen würden? Wo die Reise hinginge? Wen wir besuchen wollten? Und warum? Ob wir etwas im Auto haben, was in der DDR verbleiben soll? Was ich beruflich mache? Ich erzählte von meinem Biologiestudium – und wurde plötzlich allein gelassen. Während meine Freunde im Derby langsam begannen, Panik zu schieben und zu diskutieren, wie sie mich zurücklassen und mit dem Wagen durch die Grenzanlagen zurück in den Westen flüchten könnten, schmorte ich im eigenen Saft.
Nach gefühlt einer Stunde kam einer der Grenz-Vopos wieder in den Raum zurück, musterte mich streng und sagte: „Wir haben uns beraten, wir brauchen in der DDR keine weiteren Biologen. Sie dürfen weiterfahren.“ Ich weiß bis heute nicht, ob dies das erste Aufkeimen von Grenzhumor war oder ob wirklich keine Biologen gebraucht wurden. Ich weiß nur, dass es die Eisdiele in Mücka auch nach all den Jahren noch immer gegeben hat und wir uns für einen Alu-Taler (das DDR-Geld war immer so verflixt leicht!) ein leckeres Eis geholt haben, bevor es wieder nach Hause ging.
Dieser Artikel stammt aus „FALKENSEE.aktuell – Unser Havelland“ Ausgabe 160 (7/2019).
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