Stefan alias „Icke“ ist Berliner. Ende 2008 ist er am Ende. Der Alkohol. Er erzählt: „Ich hatte bereits drei staatliche Therapien hinter mir – und bestimmt 50 Entgiftungen. Meine Familie hatte mich aufgegeben. Mein eigener Arzt sagte mir, ich werde mich wohl totsaufen. Das war eine typische Suchtkarriere. …
… Natürlich haben mir alle gesagt, mach doch was, hör auf damit. Aber es muss ja von einem selbst kommen. Ich fand damals einen Flyer von der Fazenda da Esperança. Die haben mich sofort aufgenommen.“
Die Fazenda da Esperança, sie liegt knapp 2,5 Kilometer außerhalb von Markee, einem der äußeren Ortsteile von Nauen. Hier, mitten im Nichts, hat vor genau 20 Jahren Pfarrer Georg Schlütter einen verfallenen Gutshof von der Treuhand aufgekauft, um daraus einen „Hof der Hoffnung“ zu machen. Roland Mühlig war damals Zivildienstler vor Ort. Er erzählt: „Das ganze Gelände war unfassbar vermüllt. Wir haben bestimmt 70 bis 80 Container mit dem Hausmüll der Nachbarn entsorgt, die diesen einfach hier abgeladen hatten. Hinzu kamen Autoreifen ohne Ende, zig Autowracks und sogar noch Soldatenhelme aus dem Ersten Weltkrieg. Mich hat diese Zeit sehr geprägt. Ich wollte nicht nur meinen Zivildienst abreißen, sondern hier zusammen mit den Süchtigen leben. Inzwischen bin ich seit 20 Jahren dabei. Elf Jahre lang habe ich auf den Philippinen verbracht und hier drei Fazendas mit aufgebaut. Inzwischen betreue ich eine Fazenda in Boppard am Rhein.“
Drehen wir die Zeit etwas zurück, um das Prinzip der Fazendas besser zu verstehen. 1979 kommt Frei Hans Stapel als deutscher Franziskaner-Pfarrer nach Brasilien. In Guaratinguetá bei São Paulo lebt er mit den Mitgliedern seiner neuen Gemeinde die Worte des Evangeliums. Nelson Giovanelli hört die Worte des Pfarrers und beschließt, sich mit den drogensüchtigen Jugendlichen vor Ort zu beschäftigen. Eines Tages kam einer der Jugendlichen namens Antonio zu dem jungen Mann und sagte: „Ich halte es nicht mehr aus zuzusehen, wie meine Mutter weint. Ich will raus aus der Droge, schaffe das aber nicht allein. Ich brauche jemanden, der 24 Stunden an meiner Seite ist. Nimm mich mit, wohin du willst.“
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Nelson nahm den jungen Mann mit zu Frei Hans Stapel und gemeinsam kümmerten sie sich um ihn. Andere Drogensüchtige sahen die Fortschritte, die Antonio machte, schlossen sich an – und der erste „Hof der Hoffnung“ entstand 1983. Inzwischen gibt es über 90 Fazendas in Brasilien – und unzählige mehr auf der ganzen Welt. 15 sind es in Europa, sieben in Deutschland, darunter fünf für Männer und zwei für Frauen.
Franz Schulte gehört zum Leitungsteam der Fazenda da Esperança in Markee. Hier sind zurzeit elf „Betroffene“ oder Rekuperanten, wie die Mitarbeiter die Süchtigen nennen, untergebracht. Der jüngste ist 16 Jahre alt, der älteste 59. Fünf Freiwillige kümmern sich um die Betroffenen. Schulte: „Wer zu uns kommt, verzichtet auf Alkohol, Zigaretten, Internet und Telefon. Bei uns findet man in familiären Wohngemeinschaften in einen geregelten Tagesablauf zurück. Wir versuchen, uns selbst zu versorgen und halten auch unseren Hof selbst in Schuss. Das bedeutet, dass jeden Tag viele Aufgaben darauf warten, bewältigt zu werden. Man lernt also wieder, Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen. So finden unsere Betroffenen ihren Selbstwert wieder, entdecken die Lust am Leben neu, haben Erfolgserlebnisse und entdecken, was in ihnen steckt. Das ist ein Weg aus Sucht, Droge oder Depression – und ein staatlich anerkannter Therapieweg.“
Stefan erzählt als „Ehemaliger“ weiter: „In der Fazenda habe ich zum ersten Mal den Verantwortlichen all das abgenommen, was sie mir da erzählten. Das waren ja oft Leute, die hatten selbst schon den gleichen Weg hinter sich. Wenn es mir nachts beschissen ging, war immer jemand für mich da. Das Religiöse fand ich befremdlich, ich dachte erst, ich bin in einer Sekte, aber im Rückblick muss ich sagen, das Spirituelle gehört einfach mit dazu. Das Ziel ist ja nicht, dass ich gläubig werde, aber Respekt vor dem Glauben sollte man schon haben. Dass die Fazenda Männer und Frauen trennt, war sehr hart für mich, als ich von 2008 bis 2010 hier war. Aber auch das war im Rückblick richtig, weil man sich so mehr auf sich selbst konzentrieren kann. Die Zeit nach der Fazenda war keine leichte. Die Welt hatte sich kein Stück verändert, ich war es, der sich ändern musste. Ich hatte Probleme, kam ins Straucheln. Aber auch das gehört im Rückblick dazu. Inzwischen bin ich seit acht Jahren trocken, es geht mir gut.“ Icke hat Frau und Tochter, er hat den Weg zurück ins Leben gefunden und gemeistert. Dass er nun so offen über seine Suchtvergangenheit sprechen kann, macht vielen Betroffenen im Jetzt Hoffnung, dass auch sie es schaffen können. Icke: „Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern wiedergefunden, den Führerschein gemacht, einen Job angetreten.“
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Am 6. Oktober feierte die Nauener Fazenda ein großes Franziskusfest. Dabei wurde nicht nur das 35-jährige Bestehen der Fazendas weltweit gefeiert, sondern auch das eigene 20-jährige Jubiläum. Viele Nachbarn, Freunde der Einrichtung und Mitarbeiter aus anderen Fazendas nutzten die Gelegenheit, um bei Live-Musik, Kaffee und Kuchen, Würstchen vom Grill und vielen Aktivitäten das Gespräch zu suchen. Auch Pater Luiz als neugewählter Präsident der Bewegung schaute aus Brasilien kommend auf dem Fest vorbei.
Annette Jung vom Gut Neuhof: „Ich kann mich noch gut an unsere Anfänge vor Ort erinnern. Die Nachbarn fanden die Kirche bäh und hatten auch Bedenken bei den vielen Ausländern, die bei uns mithelfen. Das hat sich komplett gewandelt. Viele halten nun auf einer Radtour bei uns an, besuchen den Hofladen, machen bei einer Andacht mit oder nutzen unser Café, um ein Stück Kuchen zu essen.“
Auf dem Franziskusfest schaute auch Nauens Bürgermeister Manuel Meger vorbei: „Es ist das erste Mal, dass ich vor Ort bin. Beeindruckend, was geleistet wurde, um den alten Hof wieder aufzubauen. Es ist eine wichtige und gute Sache, die hier umgesetzt wird. Sehr gut finde ich, dass sich Suchtbetroffene freiwillig einem gewissen Zwang unterwerfen, um so wieder einen Weg zurück zu finden.“
Auf dem Franziskusfest konnten die Besucher an Führungen teilnehmen, um die verschiedenen Räumlichkeiten von der eigenen Kapelle bis zu den Schlafräumen und dem Speisesaal kennenzulernen. Auch Schweine, Gänse und Hühner konnte man bestaunen. Im Hofladen wurden eigene Produkte wie Holundersaft angeboten, man konnte aber auch die Erzeugnisse anderer Fazendas aus der ganzen Welt einkaufen. Besonders beeindruckend war ein Life-Konzert zur Vorstellung der neuen Fazenda-CD – mit den typischen Liedern der europäischen Fazendas.
Annette Jung: „Wir finanzieren uns über Spenden, über den Hofladen und über die Vermietung von Räumen auf unserem Gelände für Tagungen aller Art. So können wir uns auch um Betroffene kümmern, die eben keine Kostenzusage der Rentenversicherung oder Krankenkasse mehr erhalten. Auf diese Weise ist auch eine kurzfristige und umkomplizierte Aufnahme möglich. Sie muss aber aus eigenem Antrieb erfolgen.“ (Text/Fotos: CS)
Info: Fazenda da Esperança, Gut Neuhof, Neuhof 2, 14641 Nauen OT Markee, Tel.: 03321-451200, www.fazenda.de
Dieser Artikel wurde in „FALKENSEE.aktuell – Unser Havelland“ Ausgabe 152 (11/2018) veröffentlicht.
Der Beitrag Nauen OT Markee: Franziskusfest – 20 Jahre Fazenda da Esperanca! erschien zuerst auf FALKENSEE.aktuell.