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Channel: Seite 85 – Unser Havelland (Falkensee aktuell)
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Exklusivinterview – Dr. Motte kommt nach Falkensee: Jazz & Techno

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Dr. Motte ist einer der bekanntesten Techno-DJs in Deutschland. Der Berliner ist Mitbegründer der Loveparade und bringt dessen ursprünglichen Spirit mit „Rave the Planet“ wieder zurück auf die Straßen der Hauptstadt. Am 12. November kommt Dr. Motte zum ersten Mal nach Falkensee. Hier wird er im Rahmen der Techno-Veranstaltung „Rave’o’lution“ ein eigenes Set in der Stadthalle spielen.

Dr. Motte heißt eigentlich Matthias Roeingh. Der 1960 in Spandau geborene Techno-DJ, Musiker und Label-Betreiber ist Mitbegründer der Berliner Loveparade, die 1989 als „Demonstration für Frieden, Freude, Eierkuchen“ startete, und von großen Fahrzeugen aus das tanzende Volk mit Musik beschallte. 2006 verließ Dr. Motte das Projekt – und ist wieder mehr als DJ auf vielen Veranstaltungen zu sehen. Passend zu seinem 62. Geburtstag am 9. Juli diesen Jahres startete der im Wedding wohnende Musiker die Technoparade „Rave The Planet“, um den ursprünglichen Gedanken der Loveparade neu zu beleben. Über 200.000 Menschen folgten dem Motto „Together again“ – eine Fortsetzung ist für das kommende Jahr fest eingeplant.

Doch zunächst kommt Dr. Motte nach Falkensee. Am 12. November findet in der Stadthalle ein Rave namens „Rave’o’lution“ statt. Viele „Electriker“ werden sich an diesem Abend die Klinke in die Hand geben, um die Besucher zum Tanzen zu animieren. Erwartet werden neben Chris Schubert („Klangfarben“), Guido Penno („Funkstörung“) und Gabriel Werres („Breite 8B“) auch lokale Größen wie etwa das „Kollektiv Klanggut“ aus Nauen oder „Fresh“ aus Falkensee. Am späten Abend übernimmt Dr. Motte das Pult für etwa zwei Stunden.

Für ein exklusives Interview sprach Carsten Scheibe von „Unser Havelland“ mit Dr. Motte an seinem aktuellen Wohnort im Berliner Wedding.

Vom Betonbauer aus Spandau zum deutschlandweit bekannten Techno-DJ: Können Sie uns ein Stück weit auf diesem Weg mitnehmen?

Dr. Motte: „Sehr gern. Ich bin in Spandau aufgewachsen. Meine Mutter hat damals in einem Chor gesungen und bestritt auch Auftritte in klassischen Konzerten. Sie hat dafür sehr viel Zuhause geprobt. Bei uns wurde immer viel klassische Musik gespielt. So bin ich bereits von klein auf in einem musischen Umfeld großgeworden. Musik ist immer eine gute Grundlage dafür, dass sich in ihrer Umgebung Kreativität entwickeln kann. Die Sy­napsen im Kopf werden so schon sehr gut miteinander verknüpft.

Ich bin in Spandau zur Schule gegangen, erst in der Konkordia-Grundschule und danach in der Wilhelmstraße in der Bertolt-Brecht-Oberschule. Ich war ein sehr schlechter Schüler und habe nur mit Ach und Krach den Realschulabschluss geschafft. Meine Mutter hat mir ziemlich schnell klargemacht, dass es ein Herumlungern auf der faulen Haut nicht gibt, ich sollte mir also eine Ausbildung suchen. Ich war tatsächlich so schlecht, dass ich beim Vorsprechen im Vermessungsamt des Bezirksamtes nicht einmal die einfachsten Fragen beantworten konnte.

Also wurde ich Betonbauer. Den Betonbauer habe ich überbetrieblich in der Spandauer Zitadelle gelernt. Da ich immer schon sehr schlecht im Sport war, hat die Arbeit wenigstens dazu beigetragen, dass ich endlich einmal etwas kräftiger wurde. Nach der Ausbildung habe ich auf verschiedenen Baustellen gearbeitet. Ich habe sogar an der Spandauer U-Bahn mitgearbeitet. Im Auftrag einer Firma aus Berlin-Dahlem habe ich außerdem Betonsanierungen durchgeführt.

Zu der Zeit habe ich schon selbst Musik gemacht und in einer Band gespielt. Damals habe ich den Dahlemer Firmenchef gefragt, ob ich nicht einen Tag unbezahlten Urlaub bekommen könnte, weil ich mit meiner Band einen Auftritt ausgerechnet an einem Mittwoch hatte. Mein Chef sagte dann: ‚Ne, kriegste nicht. Und wenn du am Mittwoch nicht kommst, brauchste gar nicht mehr wiederkommen.‘ Das war etwa im Jahr 1982. Und: Natürlich bin ich nicht wiedergekommen. Das war es mit meiner Laufbahn als Betonbauer. 40 Jahre später bin ich meinem alten Chef nahezu dankbar. Denn seitdem habe ich nie wieder in einer Situation gearbeitet, in der mir jemand sagt, was ich tun oder lassen soll. Seitdem war ich immer unabhängig.

Und das hat natürlich vor allem mit der Musik zu tun. Und das begann so: 1974 hat mir mein Bruder eine Kassette in die Hand gedrückt. Auf dem Band war Jazz-Rock, also elektrischer Jazz, zu hören. Das hat mir wirklich den Schädel platzen lassen. Ich bin ja mit notierter Musik aufgewachsen. Hier gab es aber zum ersten Mal auch Raum für Improvisationen. So etwas hatte ich vorher noch nicht gehört. So wurde ich damals zum wohl jüngsten Jazz-Fan Berlins. Ich bin schon mit 14, 15 Jahren zu allen Jazz-Konzerten ins Quasimodo gegangen und habe auch die Jazz-Tage besucht. Das war einfach meine Musik.

Ich habe dann in einer Band gespielt, die hieß ‚Tote Piloten‘. Hier haben wir die ganze Zeit immer nur improvisiert. Das war im Grunde genommen Free Jazz. Wir haben das als White Noise Funk definiert. Bands wie Liquid Liquid waren damals ganz große Vorbilder für uns.

In der Zeit lag Spandau ja noch in West-Berlin, so mit einer Mauer drum herum. Da war das Leben noch ganz einfach. Man konnte für 120 Mark eine Wohnung mieten und für wenig Geld ganz gut leben.

In dieser Zeit habe ich Kassetten mit Musik aufgenommen und diese verkauft. Ich hatte drei Kassettenrekorder und sie genutzt, um meine Mixes anzufertigen. Das war alles noch analoge Technik, nichts digitales. Da musste man die Musik sehr punktgenau schneiden können, damit sich das gut anhört. Die Leute waren regelrecht verrückt nach diesen Kassetten. Ich hatte damals auch immer die neueste Musik. Ich habe alles gesammelt, was ich im Radio aufnehmen konnte. 1979 habe ich John Peel auf BFBS (British Forces Broadcasting Service) entdeckt. Der hat mir im Kopf noch mal ein ganz neues Fenster aufgemacht. Bei ihm habe ich alles mitgeschnitten, was an neuer Musik gespielt wurde. Ich habe sogar die Beats per Minute ausgezählt und die Musik auf meinen Mixes immer schneller werden lassen. Ich habe richtige Listen geführt mit den bpm-Zahlen – und wo die Songs auf welchen Kassetten zu finden waren.

Das war tatsächlich so erfolgreich, dass mich ein Freund an einen ganz kleinen Club in Kreuzberg vermittelt hat. Die brauchten noch ganz dringend einen weiteren DJ für einen Wochentag. Das war 1985. In dem Club gab es aber immer wieder großen Ärger wegen Geräuschbelästigung der Nachbarschaft. Ein Jahr später haben mein Freund, zwei weitere Partner und ich deswegen die ‚Turbine Rosenheim‘ in Schöneberg eröffnet. Das war so ein Erfolg, dass wir ganze zwei Jahre lang Stadtgespräch waren. Ich war am Ende der DJ für den Samstag. Da ich jede Woche mindestens einmal im Plattenladen gewesen bin, habe ich in Sachen Musik immer alles mitbekommen, was gerade irgendwie aktuell war. Ich habe auch alle Magazine gelesen und weiter Radio gehört, weil ich unbedingt ganz weit vorne mit dabei sein wollte. Ich wollte immer als erster die Stücke spielen, die man an anderer Stelle noch gar nicht hören konnte.

Zu der Zeit (1981-83) war ich auch Stammgast im ‚Dschungel‘ in der Nürnberger Straße in Berlin. Da waren wir immer donnerstags und sonntags, das waren so die Szenetage. Der Dschungel brachte für mich noch mal eine weitere Erleuchtung. Das Faszinierende war hier nämlich, das jedes Stück, das da zwischen ein und drei Uhr morgens gespielt wurde, immer nur ein Mal gespielt wurde – und danach nie wieder. Man hatte also wirklich nur in dem einen Moment, in dem ein Song gespielt wurde, die Chance, dazu zu tanzen.

Dieses Denken entspricht mir sehr. Ich möchte kein Programm-DJ sein, sondern immer wieder neue Sachen ausprobieren. Ich bin sehr froh, dass von Acid-House bis hin zu Techno eine neue Musik geschaffen wurde, in der eigentlich alles möglich ist.“

Und wo kommt in diesem Kontext eigentlich der Name Dr. Motte her?

Dr. Motte: „In der Zeit, als ich noch Punk war, hatte ich eine große Clique mit etwa zwanzig Leuten – und da gab es eben gleich zwei mit dem Namen Matthias. Irgendwann hieß es, wir brauchen jetzt endlich Spitznamen, weil wir immer beide angerannt kamen, sobald einer nach Matthias gerufen hatte. Da wurde schnell entschieden, der eine heißt jetzt Matze und gut ist. Mir haben sie den Spitznamen ‚Motte‘ verpasst.

Der Doktortitel kam erst später. Das war so 1991 in der Anfangszeit vom Techno. Damals veranstalteten wir ‚After Hour Partys‘ im ’90 Grad‘. Der DJ dort hatte damals immer das Gleiche gespielt. Wir haben sogar schon erfolgreich geraten, welchen Song er wohl gleich als nächstes spielt. Ich hatte damals alle neuen Platten mit Acid House und Techno. Damals war jedes neue Stück noch eine echte Bombe. Zu meinen DJ-Sets kamen morgens um sechs all die Leute aus den anderen Clubs. Weil ich eben so ganz andere Musik gespielt habe. Da hat mir der Johannes ein Türschild graviert, auf dem stand ‚Dr. Motte – psychiatrische Abteilung‘. Auch diesen Namen haben mir also andere gegeben. DJ Motte war ich ja schon vorher. Der Doktor kam dazu, weil ich alle so schön musikalisch verarztet habe.“

Wie hat sich die Techno-Musik eigentlich in den letzten Jahrzehnten verändert?

Dr. Motte: „Das lässt sich so einfach gar nicht beantworten. Für mich sieht es leider gerade so aus, als ob die Musik nur noch ein reines Marketing-Tool für die Vermarktung von DJs und Künstlern ist. Wenn man sich in den sozialen Netzwerken umschaut und guckt, was da gerade passiert, dann ist das einfach nur langweilig. Viele Stücke gleichen sich und Innovationen finden kaum noch statt. Genau nach diesen Innovationen suche ich aber eigentlich. Heute geht vieles vom alten Anfangsspirit verloren, weil alle immer nur Angst vor dem nächsten Shitstorm haben. Kunst muss aber frei sein, Musik muss frei sein.“

Wie heben Sie eigentlich Ihre Musik auf? Auf CD, Vinyl oder als MP3?

Dr. Motte: „Es ist doch so: Im Augenblick verwerten die Verlage ihre Musik bereits zum vierten Mal. Am Anfang war die Schallplatte, dann kam die CD, danach die MP3-Datei. Was kommt jetzt? Wieder Vinyl. Weil die großen Musikverlage gerade ihr komplettes Repertoire noch einmal auf Vinyl pressen, blockieren diese Aufträge zurzeit alle Presswerke. Möchte man jetzt als kleines Label eine Vinyl-Scheibe mit 500 oder tausend Exemplaren Auflage pressen lassen, muss man Wartezeiten von einem halben bis zu einem dreiviertel Jahr in Kauf nehmen.

Ich persönlich möchte nicht noch einmal mit 60 Plattenkartons umziehen müssen. Deswegen fasse ich im Moment gar keine Platten mehr an. Auch wenn ich irgendwo auflege, nutze ich nur ganz selten ein Vinyl-Set – wie demnächst im ‚Bunker‘ in Rostock. Dann muss nämlich auch die ganze Anlage vor Ort auf Vinyl eingestellt werden, weil der Sound ganz anders ist, und das können nur die wenigsten.

Der Standard ist, und darauf habe ich mich eingestellt, dass man mit dem USB-Stick zu einem Auftritt kommt. Aber ich spiele keine MP3s. In Clubs und auf großen Anlagen nutze ich ausnahmslos unkomprimierte Audioformate. Also WAV- oder AIFF-Dateien.

Meine Musik kaufe ich inzwischen bei Bandcamp – auch, weil die Künstler hier 80 Prozent der Einnahmen bekommen. Ich kaufe meine Musik gern in hoher Auflösung z.B. mit 24 Bit und in 96 Kilohertz. Das ist eine Qualität, die ist unglaublich. Diese Qualität muss sich aber auch vor Ort wiederspiegeln – etwa in der verwendeten Anlage. Oder eben in der Auswahl meiner Songs.

Ich habe einmal ein Set in einem Planetarium in Bochum spielen dürfen. Auf dieses Set habe ich mich ein Vierteljahr vorbereitet. Ich wollte, dass das Publikum mit meiner Musik eine Reise antritt – passend zu den Animationen, die im Planetarium gezeigt wurden. Das ist gelungen – es gab Standing Ovations. Seitdem habe ich schon öfters in einem Planetarium aufgelegt, das ist immer etwas Besonderes.“

Wenn Techno eine universelle Sprache ist, was spricht sie eigentlich?

Dr. Motte: „Musik ist die höchste Form der Kommunikation, könnte man auf einer spirituellen Ebene sagen. Musik bringt die Menschen zusammen, das kann eine friedensbildende Maßnahme sein. Wir haben ja gesehen, wie das bei der Loveparade funktioniert hat. Musik war dabei das einzige Kommunikationsmittel vor Ort. Das ist eine Kommunikationsebene, bei der keine Worte mehr zum Einsatz kommen, die missverstanden werden könnten. Nicht jeder versteht jede Sprache, aber jeder versteht Musik.“

Jetzt kommen Sie nach Falkensee. Zum ersten Mal?

Dr. Motte: „So richtig kann ich mich nicht daran erinnern, ob ich schon einmal in Falkensee gewesen bin. Aber ich habe ja mal im Havelland gelebt, das war so 1997 bis 1999. Da habe ich in Senzke gewohnt, das liegt vor Friesack, so etwa 60 Kilometer von Berlin entfernt.“

Wenn Sie nach Falkensee kommen: Wie legen Sie Ihr Set an, damit es musikalisch zum Ort passt?

Dr. Motte: „Ich möchte auch in Falkensee alle Menschen mit meiner Musik überraschen. Mit Musik, die ich in diesem Jahr produziert habe. Mit Musik, die ich in der Vergangenheit produziert habe. Und mit Musik, die ich gut finde. Auf so ein Set bereite ich mich immer penibel vor. Dabei habe ich auch immer den Ort im Kopf, weil halt alles wichtig ist. Ich hoffe, dass ich nicht oben auf einer Bühne stehe. Ich möchte viel lieber bei den Leuten sein. Ich hätte am liebsten eine Booth in der Menge, sodass sie mir auf die Finger schauen kann. Ich möchte nah dran sein und nicht oben wie ein Gott über den Menschen thronen. Ich freue mich aber sehr auf die Einladung zur Veranstaltung in der Stadthalle in Falkensee am 12. November.“

30 Jahre laute Musik, lange aufbleiben, grelle Lichter: Vitalisiert Sie das mit 62 Jahren oder merken Sie die Jahre in den Knochen?

Dr. Motte: „Mich hält die Musik eigentlich jung. Wobei ich aber auch merke, dass ich bestimmte Sachen nicht mehr höre. Bei mir ist beim Hören so etwa bei zehn Kilohertz Schluss.“ (Text/Fotos: CS)

Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 200 (11/2022).

Der Beitrag Exklusivinterview – Dr. Motte kommt nach Falkensee: Jazz & Techno erschien zuerst auf Unser Havelland (Falkensee aktuell).


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